Je dunkler und unheimlicher eine Sage, um so lieber erzählen sie die Leute, und es scheint mir, als ob sie gerade am Unerklärlichen den größten Gefallen fänden; denn man hört manchmal „Marln“ aus dem Munde eines alten Mütterchens, bei denen man umsonst fragen würde, warum das so ist und was das Geschichtlein für einen tieferen Sinn haben soll. Niemand weiß es zu begründen, es ist einfach da. Nun denke ich, dass es auf die Begründung ja gar nicht ankommt. Eine Volkssage ist nicht dazu da, dass man sie zerpflückt und untersucht. Das Wertvolle an diesen Erzählungen ist es ja, dass sie einen Blick tun lassen in das Gemüt und in die Seele der Menschen. Und nun zur Sache selbst.
In Zell am Ziller lebte einst ein Wunderdoktor, den sie den Brugger nannten, weil er nahe der Zillerbrücke wohnte, und der ein ganz unheimlicher Mensch gewesen sein soll. Gewiss, er hat mit seinen Tränklein viele geheilt und verstand sich auf allerlei dunkle Künste. Aber gerade deshalb hatten die Leute eine gewisse Scheu vor ihm, denn sie meinten, dass er mit dem Teufel im Bunde stecke.
Über hundert Jahre war der Brugger alt geworden, und als er starb, konnte niemand das genaue Alter angeben. Auf dem Totenbette aber hatte ihn noch ein frommer Mönch zum christlichen Glauben bekehrt, sodass er auf dem Zeller Friedhof begraben werden durfte.
Die Leute jedoch glaubten nicht an seinen Tod und behaupteten sogar, dass er im Grabe weiter wachse und seine Füße längst schon unter der Friedhofsmauer durchgewachsen sein müssten.
Und eben dann, wenn er mit seinen Füßen die Zeller Brücke erreicht hatte, würde das Jüngste Gericht kommen.
V.-Schule Zella. Z.
Aus der Sammlung „Sagen, Brauchtum & Mundart im Zillertal“ von Erich Hupfauf