Wabi, die alte halbtaube Dirn vom Schlosserbauern in Hintertux, musste einmal den Holzknechten im Wald Essen tragen. Den Rucksack voll Krapfen und ein Häferl mit Rahm in der Tasche, machte sie sich auf den Weg. Steil war der Waldpfad; aber die Wabi war ein echtes Kind ihrer Berge und schritt rüstig aus.
Wie sie schon halb droben war und von weitem Axtschläge der Holzer hörte, hatte sie plötzlich ein eiliges Geschäft zu verrichten. Ging noch die paar Schritte bis zu dem alten Kreuz zwischen den zwei Lärchen, stellte Rucksack und Rahmhäferl darunter auf die Betbank und schlug sich seitwärts in die Büsche.
Unterdessen kamen zwei Bergheuer des Weges. Junge, stets zu Spaß und Tücke aufgelegte Burschen. Als sie das leckere Essen sahen, da waren sie sich ohne viele Worte einig, was zu tun wäre und fielen mit wahrem Heißhunger darüber her. Schon sind sie fertig damit und wieder beim Verschwinden, da kommt dem einem von ihnen, dem Peterler Simon, ein zwar wenig ehrfürchtiger, dafür aber um so verwegener Gedanke. Er nimmt das Rahmhäferl noch einmal zur Hand, streicht mit dem Daumen den letzten Rest heraus und dem hölzernen Herrgott um den Mund. Dann machen sie sich kichernd davon.
Das war für die Wabi natürlich kein kleiner Schreck, als sie zurückkam und die Bescherung sah. Sie ballte die knochigen Fäuste und keifte dabei, dass ihre drei losen Zähne bedenklich zu wackeln begannen.
„Drwisch’n sollt ign, den Floicha, den nixnutzig’n, aft kratztet ign die Augn aus!“, so kollerten ihr die galligen Brocken über die runzeligen Lippen. Endlich wandte sie ihr ergrimmtes Gesicht dem Herrgott zu, der auch nicht besser acht gegeben hatte.
Aber – ja, soll denn das die Möglichkeit sein? Der hatte ja selbst den Rahm um den Mund!
Wabi schüttelte ein ums andere Mal den Kopf: Jetzt verstand sie die Welt überhaupt nicht mehr. Verdrossen nahm sie Rucksack und Tasche, schaute noch einmal zum Kreuz auf und brummte dabei:
„Wenn i nit gewiss wisset, aß dü insar allmächtiger Herrgott bischt, aft schlaget i d‘r auf‘n af dei schleckerische Gosche!“
Dann humpelte sie mit vergrämter Miene zurück nach Hintertux.
(Aus Sagen, Brauchtum und Mundart im Zillertal von Erich Hupfauf)
Geschichten aus dem Zillertal: Der naschhafte Herrgott
Mittwoch, 9. November 2022
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