Vor genau 200 Jahren sollen der Kaiser von Österreich und der Zar von Russland auf ihrem Weg zum Kongress von Verona im Schloss Fügen Halt gemacht haben und dort hätte ihnen die Sängerfamilie Rainer erstmals das Weihnachtslied Stille Nacht vorgesungen. Mehr oder weniger ausgeschmückt hielt sich diese Erzählung über 200 Jahre, u. a. auch auf der Gedenktafel am Schloss Fügen. Heimatforscher Martin Reiter wollte es genau wissen und machte sich im vergangenen Jahr an eine penible Recherche. Rechtzeitig zum 200. Jahrestag dieses angeblichen Kaiserbesuches konnte er den Mythos entzaubern bzw. richtigstellen.
Martin Reiter: „Zar Alexander I. und Kaiser Franz I. reisten auf ihrem Weg zum Kongress in Verona im Oktober 1822 tatsächlich durch Tirol und machten hier auch an verschiedenen Orten Halt. Gemeinsam traten sie jedoch nur in Hall und Innsbruck auf.“ Reiter weiß inzwischen sogar auf die Stunde genau, wann wer wo war: „Der Kaiser und die Kaiserin von Österreich trafen am 9. Oktober 1822 von Bayern kommend um 17.00 Uhr in Rattenberg ein, übernachteten dort und reisten am nächsten Tag um 7.30 Uhr weiter nach Innsbruck. Zar Alexander kam hingegen erst einen Tag später um 17.00 Uhr aus Salzburg und über St. Johann reisend in Rattenberg an. Am 11. Oktober um 5.00 Uhr früh reiste er schon wieder weiter, besuchte in Brixlegg das Schmelzwerk und fuhr dann nach Fügen, um die ,Eigenheiten der Bewohner des Zillerthales zu sehen‘.“
Ob unter den „Eigenheiten der Bewohner des Zillerthales“ auch die Lieder der Rainer-Sänger gemeint waren, ist nicht mehr nachvollziehbar. In ihrer Biographie haben die Ur-Rainer aber jedenfalls den Auftritt vor dem Zaren beschrieben, dem sie zwei Lieder vortrugen. Stille Nacht wird dabei nicht genannt. „Es kann sein, dass die Rainer dem Kaiser von Österreich schon 1816 bei dessen Besuch im Zillertal ein Ständchen brachten und die beiden unabhängigen Besuche der beiden Monarchen in den Geschichten dann zusammengefügt wurden“, so Reiter.
In Fügen war jedenfalls nur der Zar am 11. Oktober vormittags, nicht aber der Kaiser. Der hielt sich zeitgleich nämlich bereits in Innsbruck auf und kam dem „Herrscher aller Reussen“ nur bis Hall entgegen. „Die Kutschenfahrt von Fügen bis Hall dauerte damals über vier Stunden“, weiß Reiter.
Beim Empfang der Monarchen in Innsbruck am gleichen Tag fand sich unter den 35 anwesenden Schützenkompanien übrigens auch jene von Fügen.
Ebenso verhielt es sich auch auf der Rückreise von Verona. Während der Zar schon am 29. Dezember von Innsbruck Richtung St. Johann abreiste, blieben Kaiser und Kaiserin noch dort. Am. 18. August 1823 erhielt Fügen nochmals „kaiserlichen“ Besuch und zwar von Kaisersohn Ferdinand, der dann 1835 zum Kaiser gekrönt wurde.